Freitag, 1. Juni 2012

Die Identitätskrise der Kirchenmusik und ihre mögliche Überwindung


1. Gegenwärtig befindet sich an nicht wenigen Orten die katholische Kirchenmusik in einer tiefgehenden Krise. Im deutschsprachigen Raum scheint die Situation im Vergleich zu Italien, Frankreich, Spanien u. a. noch akzeptabel zu sein, da es noch eine ganze Reihe hochqualifizierter Kirchenmusiker gibt, die ihren Dienst mit viel Engagement und Einsatz verrichten, auch wenn hier Sparmaßnahmen vieles in Frage zu stellen drohen. In Italien zB., ja sogar in Rom selbst, kann man es häufig beobachten, dass zwar eine Orgel in der Kirche vorhanden ist, diese aber schweigt. Sie wird dann gleichsam zu einer Art „Sinnruine“, die den kundigen Kirchenbesucher mit Trauer und einer leisen Sentimentalität erfüllt. „Sic transit gloria mundi“ – „So vergeht der Welten Ruhm“ mag man angesichts stummer Orgeln bzw. ihrer Substitution durch Gitarrenmusik denken.

2. Als Indiz einer Identitätskrise katholischer Kirchenmusik soll heute das Augenmerk auf einen hiermit eng verbundenen Problembereich gelegt werden, nämlich die Verwendung moderner Unterhaltungsmusik in der Liturgie. Dies geschieht längst nicht mehr nur in eigens abgehaltenen Jugendmessen, sondern auch in „normalen“ Messliturgien sowie „Großveranstaltungen“, wie zB. bei Katholikentagen, scheint die Verwendung von „Sacro-Pop“ nahezu unumgänglich zu sein. Auf diese Weise möchte man vor allem junge Menschen ansprechen, offenbar in der Annahme, dass diese im Grunde nur noch durch Formen von Pop- und Rockmusik erreichbar sind. Auf den ersten Blick scheint ein solches Unterfangen durchaus plausibel zu sein. Unterliegt nicht auch die Kirchenmusik Entwicklungsprozessen? Was man vor 100 oder 50 Jahren für angemessen hielt, muss es nicht mehr in unserer Zeit sein. Hat denn nicht jede Zeit ihre ganz eigenen Ausdrucksformen? Entspricht die Verwendung populärer Unterhaltungsmusik nicht sogar der vom Konzil betriebenen Öffnung zur Welt? Solche oder ähnliche Argumente kann man immer wieder hören, so dass es notwendig erscheint, sich einmal eingehender mit diesem Problemkomplex zu beschäftigen.

3. Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen über das Wesen katholischer Kirchenmusik soll die Tatsache sein, dass nichts in der Liturgie der Kirche Selbstzweck ist, sondern alles Verweischarakter besitzt. Die je eigene Schönheit des Kirchengebäudes, die herrlichen Kultgewänder und heiligen Geräte, der wohlduftende Weihrauch, der Kirchenschmuck und so auch die Kirchenmusik sind in einen höheren Zusammenhang eingeordnet und haben im wesentlichen eine zweifache Aufgabe: Zum einen dienen sie der Verherrlichung und des Lobpreises der unermesslichen Größe und Majestät Gottes und sind somit so etwas wie eine - natürlich begrenzte - Antwort des Menschen auf die Erfahrung eines Gottes, der alles menschliche Begreifen um ein vielfaches übersteigt. Zum anderen wollen diese Dinge den Gläubigen helfen, gleichsam diese materielle Welt zu übersteigen, alle Erdenschwere hinter sich zu lassen und die Herzen zu der höheren, geistigen und ewigen Wirklichkeit des Heiligen zu erheben. Dies könnte man mit dem Churer Theologen und Philosophen Heinrich Reinhardt das Prinzip der „sacrifera sacralitas“ nennen, eine Atmosphäre der Sakralität, die uns Menschen eine Erfahrung des Heiligen schenkt, die über diese materielle Realität hinausweist (http://www.katholik.com/sakral.htm). In der Schönheit und im Glanz der kirchlichen Liturgie spiegelt sich im Hier und Jetzt ein wenig von der alles überstrahlenden göttlichen Schönheit wider, die irdische Liturgie ist gleichsam ein Vorkosten der himmlischen Liturgie und mit dieser also verbunden, wie es besonders in der östlichen Tradition verstanden wird und wie es auch vom Zweiten Vatikanum in SC 8 formuliert worden ist: 
In der irdischen Liturgie nehmen wir vorauskostend an jener himmlischen Liturgie teil, die in der heiligen Stadt Jerusalem gefeiert wird, zu der wir pilgernd unterwegs sind, wo Christus sitzt zur Rechten Gottes, der Diener des Heiligtums und des wahren Zeltes.

4. Wie aber kann speziell die Kirchenmusik dies alles erreichen? Sie wirkt auf die Seele des Menschen ein und löst in ihr Affekte aus, wodurch sie den Menschen bei der Transzendierung des Irdischen unterstützt. 
Wie weinte ich bei den Hymnen und Gesängen auf Dich, mächtig bewegt vom Wohllaut dieser Lieder deiner Kirche. Die Weisen drangen an mein Ohr, und die Wahrheit flößte sich ins Herz, und inniges Gefühl wallte über: Die Tränen flossen, und mir war wohl bei ihnen. 
So beschreibt Augustinus als mediterraner Mensch in den Confessiones seine Empfindungen, die in ihm durch den Kirchengesang in Mailand ausgelöst worden sind. Tiefe Ergriffenheit breitet sich also im Herzen derer aus, die diese Hymnen hören; es wäre wert, solche Zeugnisse über die Wirkung der musica sacra durch die Jahrhunderte zu sammeln, man würde beträchtliches finden. Ganz unterschiedliche Emotionen können in der Seele geweckt werden, alle aber hingeordnet auf das Heilige und Ewige. Ein heiliger Ernst, fern aller Zerstreung durch das Irdische soll das Innere des Menschen erfüllen: Mächtig-brausende Orgeltöne z.B. lassen uns etwas von der Größe und Majestät Gottes spüren und künden von einer anderen Wirklichkeit, leisere und ruhige Orgelmusik regt eher zur Meditation und Besinnung an. Der erhabene Gregorianische Choral in seiner großen Strenge und „trunkenen Nüchternheit“ zeigt dem Menschen, dass er nun gleichsam die Welt mit ihrer Geschäftigkeit und Diesseitsorientierung, also alles das, was vor dem Heiligtum ist, verlässt und den Bereich Gottes betritt, das Heiligtum. Er erinnert uns immer wieder auch an den Anspruch, den Gott an unser aller Leben stellt, und dem wir so oft nicht entsprechen. Ähnliches gilt etwa für die erhabene klassische Vokalpolyphonie eines Palestrina, Orlando di Lasso und für viele andere große und kleine Meister aller Jahrhunderte.

5. Da es um die Transzendierung des Menschen geht, dürfte es verständlich sein, dass sich die musica sacra zB. von der Musik, die man in einem Kaufhaus oder einer Unterhaltungssendung in Radio und Fernsehen hören kann, unterscheiden muss. Hinzu kommt, dass diese Musik völlig andere Wurzeln als die abendländische Kirchenmusik hat. Die moderne Rockmusik etwa besitzt diese im letzten in der afrikanischen Stammesmusik. Diese ist größtenteils auf die evocatio ausgerichtet, die Beschwörung von Göttern oder Dämonen, christliche Kirchenmusik auf die adoratio, die Anbetung Gottes. Aber auch in unserer Zeit, wo die Anfänge der modernen Popmusik kaum mehr im Bewusstsein der Massen sein dürften, besitzt sie eine andere Ausrichtung: Durch ihre eigenen musikalischen Ausdrucksformen, ihre schnellen Rhythmen, aber auch ihre Texte will die moderne Unterhaltungsmusik Zerstreuung und Ablenkung bieten, sie will Geschichten des alltäglichen Lebens, von Liebe und Leidenschaft, von Freude und Kummer erzählen, sie will je nachdem auch Protest ausdrücken oder einfach nur als Musik zum Tanz auffordern. Pop- und Rockmusik sind mit ihren musikalischen Ausdrucksformen naturgemäß nicht auf das Ewige ausgerichtet, was ja auch gar nicht ihr eigener Anspruch ist, sondern mehr auf den Augenblick, auf eine gewisse Gefälligkeit, auf eine unmittelbare Eingängigkeit. Wohlgemerkt: Diese Musik besitzt zweifelsohne ihre Berechtigung im Leben der Menschen, das steht außer Frage; sie sollte jedoch nicht mit Schlagzeug, E-Gitarre und hämmernden Rhythmen in den heiligen Raum eindringen. Machen wir die Probe auf Exempel: Nur sehr wenige würden wohl auf die Idee kommen, auf einer Geburtstagsparty durchgängig Gregorianischen Choral oder Palestrina erklingen zu lassen. Wenn im Fernsehen übrigens unsere schönen Dome, Kirchen und Klöster vorgestellt werden, hört man im Hintergrund sehr oft Gregorianik oder klassische Vokalpolyphonie. Dies ist eine ganz natürliche und nahe liegende Assoziation.

6. Für die Kirchenmusik ergibt sich heute eine zweifache Aufgabe: Zum einen muss der große thesaurus musicae sacrae intensiv gepflegt werden, was wiederum auch das Zweite Vatikanische Konzil in SC 114 betont:  
Der Schatz der Kirchenmusik möge mit größter Sorge bewahrt und gepflegt werden. Die Sängerchöre sollen nachdrücklich gefördert werden, besonders an den Kathedralkirchen. Dabei mögen aber die Bischöfe und die übrigen Seelsorger eifrig dafür Sorge tragen, daß in jeder liturgischen Feier mit Gesang die gesamte Gemeinde der Gläubigen die ihr zukommende tätige Teilnahme auch zu leisten vermag.
Doch ebenso muss diese großartige Tradition in unserer Zeit lebendig und adäquat fortgeführt werden. Nicht nur zur Bewahrung, sondern auch zur Weiterentwicklung ist die Kirchenmusik aufgerufen. Auch unsere Zeit muss ohne jeden Zweifel einen würdigen Beitrag zur musica sacra in all ihren Bereichen leisten. Kriterium jeglicher Neuschöpfung muss aber sein, ob die beiden eingangs beschriebenen Intentionen der Kirchenmusik erfüllt sind, die Verherrlichung und Anbetung Gottes und die Transzendierung des Menschen. Hierzu dürfen nur wirklich geeignete Ausdrucksformen unserer Zeit Verwendung finden, die jedoch die Gläubigen, denen die Eigenarten moderner Satztechnik nicht vertraut sind, auch nicht verschrecken sollten. So wird man etwa auf eine nicht zu extensive Verwendung von Dissonanzen achten müssen. Ebenso wird es wichtig sein, die große Tradition des Kirchenliedes angemessen weiterzuführen. Hierbei kommt es neben gediegener musikalischer Komposition auch auf Texte an, die poetisch gehobenes Niveau besitzen. Um anzudeuten, welche Wege hier beschritten werden sollten, sei stellvertretend zB. Jochen Klepper genannt. Als kleines Hörbeispiel habe ich das berühmte Gedicht von Dietrich Bonhoeffer „Von guten Mächten“ in der Vertonung von Otto Abel angeführt. Es ist kein Zufall, dass die Melodie aus dem Jahre 1959, gleichsam also vom Vorabend der 60er Jahre stammt. Denn in der evangelischen wie in der katholischen Kirche haben die 60er und 70er Jahre dazu geführt, dass viele Zeitgenossen mit „Neuem Geistlichen Lied“ nahezu ausschließlich Lieder im Sacro-Pop-Stil mit Schlagzeug und E-Bass verbinden, eine Entwicklung, die es zu korrigieren gilt, ja mehr noch, ein schmerzender Bruch, den es zu heilen gilt. 



7. Fürst Wladimir von Kiew hatte einst Gesandte zu den Deutschen, Polen, Griechen und Bulgaren mit der Prüfung beauftragt, welche Religion am besten für sein Reich sei. Als diese aus Konstantinopel zurückkamen, waren sie überwältigt von der Erhabenheit und Schönheit der Liturgie, die sie in der Hagia Sophia erlebten, so dass sie verwundert fragten, ob sie noch auf Erden oder schon im Himmel seien. Größeren Glanz könne man auf Erden unmöglich finden. Fürst Wladimir entschied sich daraufhin für die byzantinische Kirche und ließ sich im Jahre 988 taufen. Die Schönheit der Transzendenz bereits ahnungsweise in dieser Welt erfahrbar zu machen, ist eine grundlegende Aufgabe der Kirchenmusik. Wo übrigens hätten sich die Gesandten aus Kiew wohl gewähnt, wenn sie an einem Gottesdienst mit Pop-, Rock- oder gar Technomusik teilgenommen hätten?

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