1. Die Diskussion über die
Rechtmäßigkeit der Beschneidung hat vor allem eines deutlich gezeigt: Viele
Mitteleuropäer haben verlernt, in religiösen Kategorien zu denken. Zwar ist die
Beschneidung als religiöses Symbol nicht im christlichen Raum existent, aber
wer sich aufgrund seiner eigenen Religiosität in die Denkungsart einer anderen
Religion einfühlen kann, wird mit dieser Frage anders umgehen.
2. Eine Argumentation, die
ich in diesem Zusammenhang gelesen habe, war folgende: In früheren Zeiten hatte
die Beschneidung durchaus einen praktisch-hygienischen Nutzen, der heute aber
nicht mehr notwendig ist, da zumindest in unseren Breitengraden gänzlich andere
hygienische Voraussetzungen bestehen. Eine solche Sichtweise zeigt, dass man
das Wesen religiöser Symbolik und religiöser Zeremonien nicht recht verstehen
kann oder will.
3. Kein gläubiger Jude würde
die Beschneidung mit hygienischen Vorteilen begründen. Für ihn ist die
Beschneidung Zeichen des Bundes Gottes mit dem Volk Israel (Gen 17, 10-14). Die
Intention ist eine völlig andere. Die Beschneidung ist die Voraussetzung, um
Jude zu werden. Mehr noch: Sie ist ein fester und zentraler Bestandteil
religiöser Identität.
4. Für viele (wie immer
natürlich: nicht alle) Mitteleuropäer sind solche Gedankengänge nur sehr schwer
bis gar nicht nachzuvollziehen. Man neigt dazu, Religion wie andere
kulturell-sozialen Phänomene zu betrachten und zu bewerten. Auf diese Weise
jedoch wird man weder der eigenen noch fremden Religionen gerecht. Ein Grund
für diese religiöse Verstehensschwäche ist bisweilen, dass die eigene
religiöse Identität sehr eingeschränkt oder gar nicht mehr wahrgenommen wird.
5. Dass es selbst innerhalb der
Religionen solche Verstehensschwierigkeiten gibt, zeigt zB. der bekannte
Schweinfurter Pfarrer und Kirchenkritiker Roland Breitenbach auf der Homepage
seiner Pfarrgemeinde St. Michael:
Er erkennt zwar die
Schwierigkeit des Themas an, nimmt die Diskussion jedoch zum Anlass, diese auf
andere Religionen auszudehnen sowie auch zur Kritik an der katholischen Kirche
ausholen zu können:
Es bleibt die Anfrage an die
Religionen, ob sie in ihren alten Mustern sitzen bleiben wollen, selbst wenn
sie noch so sehr durch die Tradition geheiligt sein mögen. Für mich ist das
Beschneidungsverbot durch das Kölner Gericht wie ein großes Fragezeichen hinter
die merkwürdigen religiösen Bräuche aus alter Zeit. Das gilt ebenso für das
Christentum. Es muss sich fragen lassen, ob es nicht auch in überholten
Vorstellungen gefangen bleibt, zum Beispiel was die Spendung der Sakramente
betrifft.
Aus Sicht eines gläubigen
Juden ist die Beschneidung eben gerade nicht überholt, sondern ein tiefer
Ausdruck seines Glaubens und religiösen Identität. Ähnliches gilt mutatis
mutandis auch für die christlichen Sakramente. Die „merkwürdigen Bräuche
aus alter Zeit“ sind für eine Religion nicht der Kringel auf der Sahnetorte,
sondern sind ein zentrales religiöses Element. Sie begleiten den Menschen und
verbinden ihn auf wundersame, im letzten rein rational nicht erfassbaren Art
und Weise mit dem Göttlichen, dem Absoluten.
6. Die dem
Nichtgläubigen so seltsam erscheinenden Riten führen dem Menschen immer wieder
vor Augen, dass Religion sich nicht im Hier und Jetzt erschöpft, sondern eine
offene Dimension besitzt, die in eine andere Wirklichkeit verweist. Religion
strebt himmelwärts. Sie ankert in der Überzeugung, dass diese Welt, die wir
sehen und fühlen können, nicht alles ist. Und dies drückt sie in Riten aus.
7. So gesehen dürfen diese
Riten geradezu den Anstrich des Fremden, des Geheimnisvollen tragen, das in
unsere schnelllebige materialistische Zeit nicht so recht hineinpassen will.
Sie werden so zum Katalysator religiöser Unterweisung, die nötig ist, um sich
in einer Religion zurecht zu finden. Eine solche muss natürlich gewährleistet
sein, sei es in Christentum, Judentum, Islam oder sonst einer Religion.
8. Die Gefahr für eine
Religion besteht genau darin, dass dieses religiöse Wissen nicht mehr tradiert
wird. Dies wird zur Überlebensfrage jeder Religion, nicht nur des Judentums.
Denn durch das Erlernen der Inhalte einer Religion, zu denen natürlich auch
Zeremonien und heilige Handlungen gehören, bildet sich die religiöse Identität
heraus. Im Kontext einer pluralen Gesellschaft bedeutet dies: Nur wenn ich
selbst eine religiöse Identität besitze, dann werde ich auch die von anderen
Menschen achten und verstehen können.